Am 14. Juni hat die sogenannte Ampel-Koalition (SPD, Grüne und FDP) um Kanzler Olaf Scholz Deutschlands erste „nationale Sicherheitsstrategie“ veröffentlicht. Dieses Dokument soll dazu dienen, „mehr Orientierung vor dem Hintergrund der aktuellen und absehbaren schwierigen Sicherheitslage“ zu geben: Es soll Deutschlands Prioritäten definieren und Akzente für eine neue Sicherheitspolitik setzen. Was sind die wichtigsten Punkte dieser neuen Sicherheitsstrategie? Und wie haben Berlins Partner darauf reagiert?
Eric Sangar beantwortet unsere Fragen dazu. Er ist Experte für deutsch-französische Beziehungen und für Verteidigungsfragen. Er hat unter anderem im Jahre 2020 Diffusion in Franco-German Relations: A Different Perspective on a history of cooperation and conflict bei Palgrave Macmillan veröffentlicht. Er ist Assistenzprofessor für Politikwissenschaft an Sciences Po Lille und Forscher im sozialwissenschaftlichen Zentrum CERAPS (Universität Lille) sowie am Marc Bloch Zentrum in Berlin.
Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Punkte der Nationalen Sicherheitsstrategie?
ES: Zunächst einmal ist es wichtig zu verstehen, dass es sich eher um ein Grundsatzdokument als um eine Strategie im klassischen Sinne handelt: Es ist ein recht langes Dokument (75 Seiten), das eine Bewertung des internationalen Umfelds Deutschlands, einen Katalog recht allgemeiner (und nicht wirklich neuer) Werte und Interessen sowie eine Reihe politischer, wirtschaftlicher und militärischer Instrumente liefert. Das Konzept der "integrierten Sicherheit" wird als innovatives Element dargestellt, dennoch erinnert es stark an ähnliche Konzepte (wie "Vernetzte Sicherheit", "Erweiterte Sicherheit"), die in früheren Weißbüchern erwähnt wurden. Die Charakterisierung Russlands als Bedrohung für die europäische Sicherheit und die internationale Ordnung ist zwar neu, doch bereits im Weißbuch von 2016 wurde eine Tendenz zur Stärkung der militärischen Mittel, einschließlich der Aufrüstung der Bundeswehr, eingeleitet. Andererseits ist zu beachten, dass dieses Dokument nun von der Bundesregierung herausgegeben wird, im Gegensatz zu früheren Weißbüchern, die vom Bundesministerium der Verteidigung veröffentlicht wurden. Die Tatsache, dass es zwei Vorworte enthält, eines von Bundeskanzler Scholz von der SPD und eines von Außenministerin Baerbock, verdeutlicht, dass es sich um ein Dokument handelt, das aus einem Prozess der Verhandlung und der Suche nach Kompromissen innerhalb einer Koalition hervorgegangen ist.
Die NATO erwartet schon seit langem diese deutsche Nationale Sicherheitsstrategie, insbesondere seit der russischen Invasion in der Ukraine. Wie waren die Reaktionen der Partner Deutschlands auf dieses Dokument, insbesondere Frankreichs, das mehrfach erwähnt wird?
ES: Mir sind keine besonders heftigen Reaktionen aufgefallen. Man könnte sagen, dass das Dokument vor allem bestimmte Kontinuitätslinien bekräftigt, von denen einige von Frankreich unterstützt werden und andere umstritten sind. Das Dokument erwähnt zwar die Bestrebung, die deutsch-französischen Beziehungen zu vertiefen, erkennt aber auch die herausragende Bedeutung der NATO als Pfeiler der deutschen und europäischen Sicherheit an, der auf einer engen transatlantischen Beziehung beruht. Das Dokument erwähnt an keiner Stelle das Konzept der "europäischen Souveränität", das Präsident Macron und - unter verschiedenen Begriffen - auch seinen Vorgängern am Herzen liegt. Die übrigen Aussagen sind vage genug, um die westlichen Verbündeten zufriedenzustellen, ohne jedoch allzu viele greifbare Verpflichtungen zu schaffen. Dies gilt insbesondere für das Ziel, die Militärausgaben auf 2% des BIP "im Durchschnitt über einen Zeitraum von mehreren Jahren" zu erhöhen - was einen recht breiten Interpretationsspielraum zulässt.
Die deutsche nationale Sicherheitsstrategie wurde von einigen Experten wegen ihrer Ungenauigkeit kritisiert - die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat zum Beispiel auch "warmes Duschen" als eine Sicherheitsfrage definiert. Hat Deutschland Ihrer Meinung nach seine Prioritäten klar genug definiert?
ES: Mir scheint es wichtig zu betonen, dass "nationale Interessen" nicht als objektive Größe existieren. In jedem Land müssen sie in einem politischen Prozess definiert werden. In dieser Hinsicht steht Deutschland vor mehreren Dilemmas: oft widersprüchliche Erwartungen seitens seiner externen Partner (z. B. die der USA und Frankreichs), das Fehlen einer greifbaren existenziellen Bedrohung seit dem Ende des Kalten Krieges und ein gewisser Mangel an Konsens in der Gesellschaft über die Rolle, die Deutschland auf der globalen Bühne spielen sollte, und die Mittel, die es dafür mobilisieren sollte. Der "vage" und "unübersichtliche" Charakter dieses Dokuments - aber auch die langwierigen interministeriellen Verhandlungen während seiner Ausarbeitung - illustrieren meiner Meinung nach diese Dilemmas, sind aber nicht deren Ursache. Abgesehen davon bin ich auch nicht der Meinung, dass "klare" Interessen eine Voraussetzung für eine "gute" Außenpolitik sind. Deutschland muss, durch die genannten Dilemmas gezwungen, oft auf pragmatische Entscheidungen zurückgreifen und in jeder neuen Situation Kosten und Nutzen gegeneinander abwägen. Dies kann verhindern, dass Entscheidungen getroffen werden, die durch rein ideologische Erwägungen oder wishful-thinking geblendet sind - Phänomene, die bei vielen westlichen Partnern seit dem Ende des Kalten Krieges zu beobachten sind, darunter Frankreich (die Intervention in Libyen) und die USA (der Irak-Krieg).