Erinnerungspolitik │ Politiques de la mémoire
Kollektives Erinnern heißt, aus der Vergangenheit zu lernen, um die Zukunft zu gestalten. Wie internationale Expert:innen sich das vorstellen, damit befassen sich unsere Videos zum Thema „Die Zukunft der Erinnerung.“ Ein Projekt von Léa Battais, Ichrak Ben Hammouda, Azyza Deiab, Alia Fakhry, Mario Laarmann, Jonathan Spindler, Felix Wagenitz, Judith Walter und Julian Wendlinger.
Nach Kriegen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden häufig politische, soziale und kulturelle Praktiken entwickelt, die die Erinnerung der beteiligten Personen oder ihrer Nachkommen betreffen. Ob in Form von Museen, Denkmälern und Gedenkstätten, Austauschprogrammen, Schulunterricht, Büchern, Filmen und anderen künstlerischen Formen oder sogar Gerichtsverfahren – Praktiken der kollektiven Erinnerung sind immer in gesellschaftliche Dynamiken eingebunden und oft Gegenstand von Aushandlungsprozessen. Beispiele sind etwa die Truth and Reconciliation Commissions nach dem Ende des Apartheidregimes in Südafrika, die Loi Taubira in Frankreich und das daraus resultierende Nationalkomitee für Andenken und Geschichte der Sklaverei, die Instance Vérité et Dignité in Tunesien, die nach dem Arabischen Frühling die Verbrechen des Ben Ali Regimes aufzuarbeiten versuchte oder die vielfältigen Formen des Gedenkens an die Shoah: Es gibt unzählige Kontexte, in denen Erinnerungspraktiken mehr oder weniger gelungen stattfinden – oder zumindest stattfinden sollten.
Ein politischer Wille zur Erinnerung bildet auch einen Grundpfeiler der deutsch-französischen Freundschaft, die vor nunmehr 60 Jahren mit dem Elysée-Vertrag begründet wurde. Die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands und der Vichy-Regierung, die Shoah, aber auch die zahlreichen Rivalitäten und Kriege zwischen Frankreich und Deutschland werden in dieser Freundschaft nicht verdrängt oder heruntergespielt: Im Gegenteil, durch eine bewusste gemeinsame Betrachtung der Vergangenheit wurden Weichen gestellt für eine solidarische und pazifistische Zukunft. Seit den 1980er-Jahren hat sich dazu in Deutschland die sogenannte ‘Erinnerungskultur’ herausgebildet, die Anerkennung und Aufarbeitung historischer Schuld zum staatlichen Selbstverständnis erklärte. In Frankreich hat sich die Chirac-Regierung der 1990er-Jahren der Aufklärung des Vichy-Regimes verschrieben.
Der Diskurs über diese Erinnerungspraktiken ist aber nun seit einigen Jahren in einer neuen Phase angekommen. Die Aufklärung der Kolonialvergangenheit wurde seit der Dekolonisierung in den 1950er und 1960er Jahren auf französischer Seite zunehmend unumgänglich, und in Deutschland haben die Diskussionen um das Humboldt Forum im Jahr 2020 die Aufarbeitung der ebenfalls massiven, aber kaum bekannten Kolonialgeschichte in den öffentlichen Fokus gerückt. Wissenschaftliche wie zivilgesellschaftliche Stimmen fordern daher die Ausweitung der „Erinnerungskultur” auf die Aufarbeitung des Kolonialismus und anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ohne dabei die Relevanz der bisherigen Thematiken infrage zu stellen.
Das Projekt Erinnerungspolitik │ Politiques de la mémoire ist dieser neuen Phase der Erinnerung gewidmet. Es betrachtet die Diskurse und Praktiken in Frankreich und Deutschland aus einer transnationalen Perspektive und stellt daher außer-europäische Perspektiven bewusst ins Zentrum. Ausgehend von Reflexionen im Rahmen der Projekte Generation Europa (https://www.dfjw.org/programme-aus-und-fortbildungen/generation-europa) und Transmed: Penser la Méditerranée ensemble – transmediterrane Jugendpolitik (https://www.transmed-projekt.org/de/index) möchten wir Impulse setzen, unsere Erinnerungspolitik kritisch weiterzuentwickeln. In den folgenden Videos antworten daher verschiedene Expert:innen auf die Frage: « Wie stellen Sie sich die Zukunft unserer Diskurse und Praktiken der Erinnerung vor? »
Die Generation Europa hat im Laufe des Jahres 2023 im Übrigen eine Reihe von Vorschlägen zur Erinnerungspolitik erarbeitet, die hier heruntergeladen werden können (S. 14-16).
Maisha-Maureen Auma ist eine deutsche Erziehungs- und Genderwissenschaftlerin. Ihr Expertise hat sie von 2020-2024 auch für die Erarbeitung des gesamtstädtischen Aufarbeitungskonzepts zu Berlins kolonialer Vergangenheit zur Verfügung gestellt. Im Video spricht sie von der Notwendigkeit, Erinnerung von ‘den Rändern’ der Gesellschaft aus zu denken.
Michaela Feurstein-Prasser, wohnhaft in Wien, ist Romanistin und Historikerin. Von 1993-2011 hat sie, zuletzt als Kuratorin, am Jüdischen Museum Wien gearbeitet und ist seitdem als freie Kuratorin und Kulturvermittlerin tätig. Im Video spricht sie über die Rolle von Museen und Ausstellungen für zukünftige Erinnerungsarbeit.
Françoise Vergès ist eine französische Politik- und Kulturwissenschaftlerin. Von 2008-2012 war sie die Präsidentin des französischen Nationalkomitees für Andenken und Geschichte der Sklaverei. Im Videobeitrag spricht sie über Erinnerung im post-kolonialen Kontext.